Dieser Text bezieht sich auf diese Pressemeldung des BVerwG. Die Entscheidungsgründe sind noch nicht veröffentlicht.
I. Das Urteil
Bei einer Protestaktion gegen den Bundesparteitag der AfD im Jahr 2016 kesselte die Polizei die Beteiligten, fesselte sie mit Einwegschließen hinter dem Rücken und verbrachte sie in eine Gefangenensammelstelle (GeSa). Die Teilnehmer:innen hatten Zufahrtswege blockiert, Transparente aufgebaut, und Pyrotechnik gezündet. Einer der Teilnehmer:innen erhob Klage gegen die Maßnahmen der Polizei. Hierbei kam es vor allem auf die Frage an, ob es sich bei der Protestaktion um eine von Art. 8 GG geschützte Versammlung handelt.
Der Rechtsstreit unterlief in den verschiedenen Instanzen interessante Wendungen:
Das VG Sigmaringen als erste Instanz stellte sich auf die Seite der Demonstrant:innen: Die Versammlung hätte erst aufgelöst werden müssen, bevor polizeiliche Maßnahmen vorgenommen werden könnten. Das ergäbe sich aus der Polizeifestigkeit der Versammlung. Was heißt das genau?
Das Versammlungsrecht, in Artikel 8 des Grundgesetzes garantiert, gehört schließlich zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ (Brokdorf-Beschluss), und ist damit ein zentrales zu schützendes Grundrecht. Damit diese Freiheit nicht unterlaufen wird, ist das Versammlungsrecht abschließend in den Versammlungsgesetzen (des Bundes und der Länder) geregelt. Die Polizei kann also nur Maßnahmen, die in den Versammlungsgesetzen stehen, ergreifen, und nicht die, zu denen sie durch die Polizeigesetze ermächtigt ist. Das Versammlungsrecht „sperrt“ also das Polizeirecht, es ist „polizeifest“. Um allgemeines Polizeirecht anzuwenden, muss eine Versammlung also erst aufgelöst werden.
Zurück zum Fall: Der VGH Baden-Württemberg sah diese Sperrwirkung nicht als gegeben an. Vielmehr stellte die Aktion der Teilnehmer:innen gar keine Versammlung dar, sondern eine vom Versammlungsrecht nicht geschützte Verhinderungsblockade. Was soll das wiederum heißen?
Das lässt sich mit der Definition einer Versammlung erklären: Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Eine Versammlung ist also nur dann geschützt, wenn es um die Erörterung oder Kundgabe einer Meinung geht. Eine Versammlung läge also gar nicht vor, wenn es nur um Störung und Blockierung, und nicht um Meinungskundgabe gehe. Wenn also gar keine Versammlung vorliegt, dann könne auch keine Polizeifestigkeit vorliegen.
Dem stimmte das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz wiederum nicht zu: Aufgrund der Meinungskundgabe (immerhin hatten die Versammelten Transparente dabei!) handle es sich durchaus um eine Versammlung, womit der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung eigentlich greifen würde.
Allerdings sei die Versammlung nicht friedlich gewesen, und dies von Anfang an. Die Polizeifestigkeit gelte nur, sofern die Versammlung friedlich verläuft. Ist die Versammlung unfriedlich, so kann die Polizei von ihren Eingriffsermächtigungen aus dem Polizeirecht Gebrauch machen.
Dies ergebe sich aus Art. 8 I, der immerhin nur das „Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich […] zu versammeln“ umfasse. Mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 GG bedürften jedenfalls solche Versammlungen, die von Beginn an unfriedlich sind, vor einer Anwendung des allgemeinen Polizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG.
II. Einschätzung
Was das Urteil des BVerwG für die Praxis bedeutet, wird sich noch zeigen. Zunächst werden sich die Oberverwaltungsgerichte auf diese neue Linie einstellen müssen. Auch in der Rechtswissenschaft finden sich bereits Vorschläge, wie das Urteil einzuordnen ist. Jakob Hohnerlein etwa geht davon aus, dass friedliche Blockade-Versammlungen wie die der „Klimakleber“ gestärkt werden und der Begriff der „Friedlichkeit“ an Bedeutung gewinnt.
Unser Fazit: Das BVerwG urteilt, dass bei einer von Anfang an erkennbar unfriedlichen Versammlung ohne vorherige Auflösung nach allgemeinem Polizeirecht vorgegangen werden darf. Bei eindeutigen Fällen mag dieses Instrument tragfähig sein. Es bestehen jedoch Abgrenzungsschwierigkeiten: Denn wie beurteilt man eigentlich, ob und ab wann eine unfriedliche Versammlung vorliegt?
Bei neuartigen Versammlungsformen wie Protestcamps, die bereits Tage vor dem eigentlichen Anlass der Versammlung unter den Schutz von Art. 8 GG fallen können, ist eine Anknüpfung an den genauen Zeitpunkt schwierig.
Ebenso wäre denkbar, dass die Polizei einen Anreiz erhält, zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzuschreiten. Wenn sie trotz von Anfang an erkennbar unfriedlicher Versammlung erst später einschreitet, könnte sie sich erhöhtem Erklärungsdruck ausgesetzt fühlen. Bei einem Einschreiten zum frühestmöglichen Zeitpunkt ist der Druck hingegen geringer, die mögliche Grundrechtseinschränkung jedoch umso stärker.
Zudem deckt sich der zeitlich punktuelle Ansatz des BVerwG nicht mit dem Verständnis des BVerfG, welches eine Versammlung eher als Geschehensablauf mit Höhen und Tiefen ansieht und eine Unfriedlichkeit erst dann annimmt, wenn eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt.
Das Urteil des BVerwG schafft möglicherweise Rechtsunsicherheit, indem es die Auflösung der Versammlung zum deklaratorischen Akt degradiert und die Anwendung allgemeiner polizeirechtlicher Maßnahmen anhand ungewisser Kriterien vorverlagert.
Zur Pressemeldung des BVerwG (Nr. 12/2024 vom 27.03.2024): https://www.bverwg.de/pm/2024/12
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